Junji Ito – Lovesickness: Liebeskranker Horror
Junji Ito – Lovesickness: Liebeskranker Horror

Junji Ito – Lovesickness: Liebeskranker Horror

Versunken im Nebel

Content Warning/Inhaltswarnung: Suizid, Tod, Blut, Selbstverletzung, seelische Gewalt, körperliche Gewalt, Kindesmissbrauch, Schwangerschaft und Fehlgeburt, Abtreibung, Emeto, Gore, Body Horror

An einer vernebelten Straßenkreuzung wartet ein Mädchen auf einen Fremden, damit dieser ihr die Zukunft vorhersagt. Bald darauf bringt sie sich mit einem Teppichmesser um. Doch das ist nur der Anfang dessen, was in einer unbenannten Kleinstadt in der ersten und längsten von vier Kurzgeschichten in Lovesickness passiert. Was als eine Art Mystery-Thriller beginnt, verwandelt sich schnell in äußerst brutalen Bodyhorror mit Ito-typisch überaus verstörenden Bildern. Wegschauen kann man trotzdem nicht, denn die Kunst von Junji Ito kann hier glänzen. 

Körper werden aufgerissen, Kehlen zerschnitten, noch mehr oder weniger lebendige Leichen rotten vor sich hin und die Details dieses Körperhorrors sind stellenweise so dermaßen gut gemacht, dass ich mich nicht davon abhalten konnte, einen Blick in Richtung Balkon zu werfen, als es im Manga am Fenster des Hauptcharakters geklopft hat. Sehr viel mehr als im kürzlich von mir rezensierten Sensor kann Ito in Lovesickness seine Stärken ausspielen. Charaktere haben Raum zum Atmen. Die teilweise bizarren Ereignisse kommen nicht wie bei Sensor aus dem Nichts, sondern werden tatsächlich eingeführt und die verschiedenen Formen krankhafter Liebe, die namensgebende Lovesickness, nimmt dermaßen extreme Züge an, dass mir mehrfach die Spucke wegblieb. Spätestens mit diesem Band hat sich Junji Ito als mein Lieblingsmangaautor zementiert. Die Hauptstory allein rechtfertigt für mich schon den Preis, aber es sind sogar noch ein paar Kurzgeschichten mehr mit dabei.

Menschliche Abgründe

Qualitativ können nicht alle nachgestellten Kurzgeschichten mit der namensgebenden Lovesickness mithalten, aber einige Juwelen finden sich hier trotzdem noch: Gleich mehrere Ereignisse im Leben der seltsamen Hikizuri-Geschwister verstören mit unglaublich sinnloser Boshaftigkeit, die auf die bestmögliche Art und Weise anwidert. In einer weiteren Geschichte empfindet der Sohnemann einer reichen Familie Phantomschmerzen außerhalb seines Körpers, die nur gelindert werden können, indem ein ganzes Team aus Arbeitern im Haus der Familie umhereilt und Stellen in der Luft massiert. Klingt bizarr, ist aber ein völlig neues Trauma, dessen man sich noch nicht bewusst war.

Nicht alle Geschichten aus der zweiten Buchhälfte passen gänzlich zu Lovesickness, aber das grobe Thema krankhafter Liebe bleibt in allen halbwegs erhalten. In seiner Gesamtheit gibt das Buch einen netten Überblick über die verschiedenen Stile, die sich in Itos Arbeit immer wieder finden. Von kosmischem Horror zu heftigem Body-Horror über sehr düsteren Humor bis hin zu seinen völlig überzogenen Szenarien wird alles in Lovesickness zumindest angeschnitten. Sowohl für Kenner von Itos Werken als auch für Neulinge kann ich es damit bedenkenlos empfehlen.

von Felix Ritzmann

Junji Ito
Lovesickness – Liebeskranker Horror
Aus dem Japanischen von Jens Ossa
Carlsen 2022
418 Seiten
24 Euro

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